Herbert Schmidt-Kaspar

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H. Schmidt-Kaspar – zusammengefasst

Literaturwissenschaftliche Rezension (Volltext)

Über Herbert Schmidt-Kaspar

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H. Schmidt-Kaspar – zusammengefasst

Literaturwissenschaftliche Kritik von Herbert Schmidt-Kaspar zu Gerold Tietz – zusammengefasst vom ROGEON Verlag:

»Herbert Schmidt-Kaspars Rezensionen basieren auf seiner sehr guten Kenntnis von Métier und geschichtlich-geographischem Hintergrund. Selbst Schriftsteller und in Böhmen aufgewachsen setzt er sich mit den Werken von Gerold Tietz sehr eindrücklich auseinander.

Die Rezension von Herbert Schmidt-Kaspar zu ‚Böhmische Fuge‘ und ‚Große Zeiten Kleines Glück‘ beschäftigt sich zunächst mit der Frage der (Nicht-) Zuordnung des Autors zur Erlebnisgeneration, und geht hernach lobend auf die authentische Darstellung aller relevanten Umstände ein – nicht ohne zu erwähnen, dass diese Welt, die hätte seine (Tietz‘) sein können, durch den zerstörerischen Größenwahn und Hochmut der Deutschen als auch den kalten Hass der Tschechen schließlich unterging. Ob Familiengeschichte im einen Werk oder Liebesgeschichte im anderen, so Schmidt-Kaspar, es trete jeweils unweigerlich der Subtext des Untergangs jener Welt hervor, in welcher die Hauptfiguren der Romane einmal lebten. Dabei würde Tietz stets auch den eigenen Schuldanteil dieser Personen augenscheinlich werden lassen. Schmidt-Kaspar schließt mit der Erkenntnis, dass wenn es eine Welt, so wie sie sich in jenem Dorf, in jenem Prag verwirklichte, heute nicht mehr gäbe, dass es dann ein Glücksfall sei, wenn einer käme und sie in seinen Büchern, in seiner Sprache noch einmal entstehen ließe. Genau dies sei Literatur.

Die anschließende Rezension zu ‚Böhmisches Richtfest‘ nimmt Bezug auf die darin geschilderten Zeitläufte in sechs Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts – in welchen die Vertriebenen keine „neue Heimat“ i.e.S. finden weil sie in ihrem Denken, Tun und Sein auch nach all der Zeit in ihrem böhmischen Dorf verhaftet bleiben. Schmidt-Kaspar weist dabei ausdrücklich darauf hin, dass Tietz‘ Werk weder Heimweh- oder Nostalgie-Roman, noch ein Roman über die Vertreibung, und auch kein ins zwanzigste Jahrhundert transponierter Entwicklungsroman ist. Und schließlich hebt der Rezensent den kritischen Umgang von Tietz mit jenen hervor, die sich durch fragwürdige Erinnerungslücken und Verdrängungskünste hervortun.

Über den Autor: Herbert Schmidt-Kaspar wurde 1929 in Reichenberg in Nordböhmen geboren; er lebte seit 1945 in Bayern; er studierte Deutsch, Geschichte und Englisch in Regensburg und München; er war als Lehrer in Niederbayern, München als auch in Beirut (Libanon) tätig; als Schriftsteller wurde er u.a. mit dem Sudetendeutschen Kulturpreis für Literatur ausgezeichnet.«

ROGEON Verlag

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Literaturwissenschaftliche Rezension

von Herbert Schmidt-Kaspar

(1) Rezension zu den Werken ‚Böhmische Fuge‘ und ‚Große Zeiten Kleines Glück‘:

»Kann man einen Autor, der 1941 geboren ist, noch zur Erlebnisgeneration zählen? Eigentlich wohl eher nicht. Zum Zeitpunkt der Vertreibung war Gerold Tietz vier bis fünf Jahre alt. Wie könnte er an das Schreckliche von damals, wie könnte er gar an das Leben in der Heimat eine Erinnerung haben, die weiter zurück reicht als bis zu der Zeit, als alles ein böses Ende nahm.

Und doch – in beiden Büchern, von denen hier die Rede ist, wird diese weit zurückliegende, diese untergegangene, weithin vergessene und verdrängte Vergangenheit beschworen. Sie steigt herauf wie eine Fata Morgana, verlockend, sehnsuchtsvoll, dabei trügerisch, sich immer dann entziehend, ins Phantastische verflüchtigend, wenn der Leser glaubt, sie erfasst zu haben. Gerold Tietz ist augenscheinlich mit der Gabe des Zuhörens und des Hinsehens begnadet. Die Stimmungen der bäuerlichen Landschaft im Hopfengebiet von Auscha, im Jahreslauf und in den Zeiten des Jahrhunderts gibt er ebenso exakt und sensibel wieder, wie die Atmosphäre Prags vor und nach der Errichtung des „Protektorats“, als sich der traditionelle Antagonismus der Nationalitäten in hybriden Hochmut auf Seiten vieler Deutscher und in kalten Hass auf Seiten der Tschechen wandelte. Erstaunlich bei einem Menschen, der ja nie dort gelebt hat, sind seine Detailkenntnisse: landschaftliche, vor allem aber sprachliche Besonderheiten, Ausdrücke für bestimmte Speisen, für Gegenstände im Haushalt, im Dorf, in der Natur, für Personengruppen und Verhaltensweisen. Wer weiß heute noch, was Jirdischkln waren, Koschinkln, Hopfenziechen, Fabrikkaten, Kranzlmädel, was ein Drahtnig war, eine Pawlatsche, was flamendern oder bimsch bedeutete? Der Rezensent gesteht, dass er, obwohl älter als Gerold Tietz und noch in Böhmen aufgewachsen, zuweilen tief in seiner Erinnerung graben musste, bis ihm solche Wörter wieder gegenwärtig wurden. Und den Ausdruck „Zischke“ kannte ich nur in der Bedeutung „widerwärtiges Frauenzimmer“ und nicht so, wie ihn Tietz gebraucht, nämlich als Synonym für „Tannenzapfen“.

Nun ist es nicht so, dass Gerold Tietz mit dieser Sprache, mit den vereinzelten tschechischen Wendungen, die er gebraucht, und mit den Anspielungen auf böhmische Geschichte und Literatur so etwas wie Heimattümelei betreiben würde. Es ist eher eine wehmütig ironische Art des Zitierens. Tietz beschwört eine Welt, die die seine hätte werden können, die es aber nicht wurde, weil zerstörungswütiger Größenwahn sie in den Untergang trieb. Und dieser Untergang hat den Erzähler und auch jenen Charakter, der innerhalb der Geschichten sein alter ego darstellt, nicht nur zu einem Vertriebenen, sondern zu einem Ortlosen gemacht. Einmal zählt dieser Erzähler alle abschätzigen Bezeichnungen auf, die er sich, der Kindheit entwachsen, in der „neuen Heimat“ (Tietz verschlug es mit seiner Mutter über die „Ostzone“ und Oberbayern schließlich nach Schwaben) gefallen lassen musste: Polack, Saupreuß, Watzlaw, Heimatdurchtriebener, Revanchist, aber auch Verzichtler. Wenn er und wenn die Charaktere seiner Erzählungen in der Vergangenheit einen Ort suchen, an dem sie hätten zuhause sein können, dann wissen sie, dann weiß auch der Leser, dass ein solcher Ort zwar gezeigt, beschworen, aber nicht gefunden werden kann. Dies ist übrigens nicht nur ein sudetendeutsches oder böhmisches Thema, sondern eine der existenziellen Grenzsituationen, in die das Zeitalter der europäischen Katastrophen Millionen von Menschen gestellt hat.

„Böhmische Fuge“ erzählt die Chronik einer ursprünglich wohlhabenden bäuerlichen Familie vom Anfang des vorigen Jahrhunderts, über den ersten Weltkrieg, die Erste Tschechoslowakische Republik, „Anschluss“, Nazizeit, zweitem Krieg, Vertreibung und Flüchtlingsdasein bis zum Werdegang des jüngsten Enkels (der als Erzähler und Sprecher eines inneren Monologs fungiert) als Student im Paris der sechziger Jahre. Dieser Erzähler taucht auch in dem zweiten Buch auf und lässt sich von einer alten Dame die lange zurückliegende Liebesgeschichte zwischen ihr und einem jungen Mann berichten, dessen Mutter Tschechin war, der sich weigerte, sich zum „Deutschtum zu bekennen“, und der daraufhin eines Tages verschwand. Aber ob Familien- oder Liebesgeschichte: der Hintergrund, der alles bestimmende Subtext ist der Untergang der Welt, in der diese Menschen einmal lebten. Dabei wird ihre eigene Schuld nicht beschönigt oder ausgespart. Gustav, der Patriarch der Bauernfamilie, der im Ersten Weltkrieg die russische Gefangenschaft nur dank gutmütiger Menschen überlebt, ist später trotzdem hochfahrend und hart gegen „Fremdarbeiter“, scheut sich nicht, Naziphrasen in den Mund zu nehmen. Sein Sohn wird SS-Mann, beinahe KZ-Bewacher, ist zwar entsetzt von dem, was er in Russland sieht, kann sich aber aus der Verstrickung nicht mehr lösen. Der Vater der jungen Pragerin Rita, ein Wissenschaftler, erkennt von Anfang an Verderblichkeit und Unsinnigkeit des nationalen Chauvinismus, lässt sich aber – aus Angst und Schwäche – auf Kompromisse mit dem Nazitum ein. Rita selbst hält zwar an ihrer Liebe zu dem verfemten Halbtschechen Leo fest, ist aber auch nicht immun gegen die dümmlichen Durchhalteparolen ihrer BDM-Führerin. Dafür büßt sie in den blutigen Maitagen des Jahres 1945 – und die Buße ist unverhältnismäßig grausam.

Heimatliteratur? Das Wort hat einen schlechten Klang, weil manche Schriftsteller, auch sudetendeutsche, den Begriff Heimat verflacht und verkitscht haben. Aber Literatur kann nicht welthaltig sein, wenn sie nicht von einem bestimmten Ort ausgeht, sei es Prag oder auch das Dorf Horka bei Dauba. Und wenn es eine Welt, so wie sie sich in diesem Dorf, in diesem Prag verwirklichte, nicht mehr gibt, dann ist es ein Glücksfall, wenn einer kommt und sie in seinen Büchern, in seiner Sprache noch einmal entstehen lässt. Das ist Literatur.«

(2) Rezension zum Werk ‚Böhmisches Richtfest‘:

»Mit diesem „Böhmischen Richtfest“ setzt Gerold Tietz fort, was er vor zwei Jahren mit seiner „Böhmischen Fuge“ begonnen hat. Man könnte auch sagen, er variiert es. Wieder ist der Inhalt der Erzählung vorwiegend autobiographisch. Eine der beiden Hauptfiguren heißt Gernot Tiel, was den Gedanken nahe legt, dass sie mit dem Autor noch mehr gemeinsam haben muss, als das Geburtsjahr, die Herkunft aus einer Hopfenbauernfamilie in einem Dorf namens Horka im Daubaer Land, das Studium der Romanistik und die Vorliebe für Frankreich und die französische Kultur. Vor allem durch die Augen dieses Gernot werden die Zeitläufte in sechs Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts dargestellt, sozusagen ab ovo, denn durch einen surrealistischen Trick (man könnte es auch ein Gedankenspiel nennen) lässt Tietz diesen Gernot schon als Embryo wahrnehmen und kommentieren, was um ihn herum vorgeht und wohin sich seine Welt bewegt.

Trägerin dieses Embryos und zweite Zentralfigur des Romans ist Gernots Mutter Anna. Wir kennen sie schon aus der „Böhmischen Fuge“: Lehrerin für Handarbeiten und Hauswirtschaft, hat sie den Sohn eines „Ortsbauernführers“ und „Reichserbhofbauern“ geheiratet, der sich nach kurzen Ehejahren zur Waffen-SS meldet und bald darauf in den Weiten des Ostens um- und abhanden kommt. Als „Kriegerwitwe“ muss sie die Vertreibung und die anschließende Odyssee durchstehen, die sie und ihre zwei zunächst noch sehr kleinen Söhne über die „Zone“ und den Chiemgau schließlich ins Württembergische verschlägt, wo sie sich eine berufliche Existenz aufbaut, später auch die Schwiegereltern nachholt und eine Bleibe finden kann – allerdings nicht das, was man eine „neue Heimat“ nennt. Denn in ihrem Denken, ihrem Gefühl, ihrer Sprache, ihrer Vorstellungswelt bleibt sie ihrem böhmischen Dorf verhaftet, obwohl das ja nach der Vertreibung höchstens noch als Punkt in der Geographie existiert.

Trotzdem ist dies kein Heimweh- oder Nostalgie-Roman, es ist auch kein Roman über die Vertreibung. Und obwohl wir den Weg Gernots (mit großen Zeitsprüngen) vom status nascendi bis ins reife Mannesalter, den Annas von der jungen Mutter bis zur Neuzigjährigen verfolgen, ist es auch kein ins zwanzigste Jahrhundert transponierter Entwicklungsroman. Eher könnte man sagen, es ist ein Zeitroman, eine Geschichte oder vielmehr ein Bündel von Geschichten über das Dasein als Vertriebener und darüber, wie das, was durch die Vertreibung zunichte gemacht werden sollte, dennoch weiterlebt, und zwar über Jahrzehnte und über Generationen hinweg, sei es auch nur im Klang einzelner Wörter, in Bildern und Kochrezepten, im Gefühl des Niemals Angekommenseins und in einer Art Phantomschmerz, der Verlorenes immer gegenwärtig sein lässt. Dabei ist Tietz durchaus nicht blind für die oft komischen, ja grotesken Seiten dieser Vergangenheitsbezogenheit (von Veranlagung her ist er ohnehin eher ein Ironiker und Satiriker). Und sehr kritisch kann er werden, wenn es um die Erinnerungslücken und Verdrängungskünste einer gewissen Art von Heimatfreunden geht. Eines der überzeugendsten Kapitel des Buches führt vor, wie Gernot und Anna auf dem Sudetendeutschen Tag auf eine alte Bekannte treffen. Vor der Geräuschkulisse der bei solchen Veranstaltungen immer besonders hochtönenden Reden und Gesänge erzählt ihnen die, wie ihr Vater, ein sozialdemokratischer Ortsvorsteher, nach dem „Anschluss“ genau von jenen Leuten denunziert und terrorisiert wurde, die wenige Jahre später („Mir Sudetendeitschen missen doch zammhalten!“) zu ihm kamen und einen Persilschein für die Spruchkammer haben wollten.

Solche realistischen Erzählungen und Dialoge sind, wie auch die sprachlichen Reminiszenzen an heimatliche Dialekte nur eines der Kunstmittel, derer sich der Erzähler Tietz bedient. Andere sind die surrealistische Montage und der Bewusstseinsstrom, in dem sich die Grenzen des Realen und des Vorgestellten, Erträumten oder Erahnten nicht mehr genau festlegen lassen, oder auch Verschiebung der Erzählposition von einer Person auf die nächste, manchmal sogar auf eine, die bisher noch gar nicht aufgetreten ist – wike z.B. eine in der DDR ansässig gewordene Kusine Gernots, die bei einem Ferienaufenthalt in der ČSSR das Scheitern des Prager Frühlings miterlebt. Man merkt, dass der Romanist Tietz nicht nur seinen Proust gelesen hat, sondern auch die Vertreter des Nouveau Roman und andere Werke der modernen Weltliteratur.

Wie die Leser dieser Zeitschrift wissen, hat er in diesem Jahr 2007 den Sudetendeutschen Kulturpreis für Literatur bekommen. Dazu sei er noch einmal beglückwünscht.«

Herbert Schmidt-Kaspar, München, 2007

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Über Herbert Schmidt-Kaspar

Herbert Schmidt-Kaspar

Herbert Schmidt-Kaspar wurde 1929 in Reichenberg / Liberec in Nordböhmen geboren; er lebte seit 1945 in Bayern und studierte Deutsch, Geschichte und Englisch in Regensburg und München; Schmidt-Kaspar war als Lehrer in Niederbayern, München als auch in Beirut (Libanon) tätig; als Schriftsteller wurde er u.a. mit dem Sudetendeutschen Kulturpreis für Literatur ausgezeichnet.

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